Behinderung durch die Justiz
Menschen mit kognitiver Behinderung erfahren Hürden in Strafverfahren. Gerade bei möglichen Sexualdelikten kann das fatal sein. Doch die Behörden tun wenig, um dies zu ändern.
Wenn Danah Ayob an ihre Einvernahme bei der Zürcher Staatsanwaltschaft denkt, ist das Gefühl von damals sofort wieder da: Hilflosigkeit. Dabei liegt die Befragung bereits ein gutes Jahrzehnt zurück.
Die junge Frau, damals 19 Jahre alt, hatte zwei Monate zuvor Anzeige erstattet. Und zwar wegen Vergewaltigung. Und nun sass sie in einem Befragungsraum im Bezirksgebäude zwei Männern gegenüber: einem Staatsanwalt und dem Schriftführer. Sie war allein. Niemand, so erzählt sie es im Sommer 2025, habe ihr die Situation erklärt. Eine Anwältin hatte sie nicht. Eine Vertraute wartete vor dem Saal.
Neunzig Minuten lang befragte der Staatsanwalt Danah Ayob. Im Vernehmungsprotokoll, das CORRECTIV.Schweiz vorliegt, sind folgende Fragen vermerkt:
Weshalb hatten Sie Angst, wenn er Sie gar nicht bedroht hat?
Wenn Sie einen Freund hatten, wieso treffen Sie sich dann mit anderen Männern und gehen in deren Wohnung?
Weshalb liessen Sie es zu, dass er Ihnen die Kleider auszog?
Der Staatsanwalt sei so dominant gewesen, dass sie kaum zu Wort gekommen sei, erinnert sich Ayob. Er habe ihr das Gefühl gegeben, ihr nicht zu glauben. Irgendwann habe sie einfach gar nichts mehr gesagt.
Vorwurfsvolle Fragen
An ihrem Küchentisch in Schlieren, wo sie heute in der Wohnung einer Stiftung wohnt, nimmt die 32-Jährige ihre Brille ab und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie sagt: „Er hat mich auseinander genommen.“
Hilflos, überfordert, traurig – so verliess sie damals das Bezirksgebäude – und zog daraufhin ihre Anzeige zurück. Der Staatsanwalt stellte das Verfahren noch am selben Tag ein. Bei einem Offizialdelikt wie einer Vergewaltigung hätte er das nicht tun müssen. Die Untersuchungsbehörden müssen in solchen Fällen von Amts wegen ermitteln – auch wenn es keine Strafanzeige gibt. Der Staatsanwalt aber verfolgte die Sache nicht weiter. Grund: Die Glaubwürdigkeit der Zeugin sei „sehr infrage gestellt“, weil sie schon zuvor eine zweite Anzeige zurückgezogen hatte. Die Einstellungsverfügung liegt der Redaktion vor.
Nun muss man wissen: Danah Ayob, die eigentlich anders heisst, hat eine psychische Behinderung und eine Lernschwäche. Sich auszudrücken fällt ihr manchmal schwer, vor allem unter Druck. Im Gespräch mit CORRECTIV.Schweiz fragt sie ein paar Mal nach der Bedeutung von Worten, die ihr nicht geläufig sind. Sie ist oft müde, hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren – eine Folge der Medikamente, die sie einnimmt, um ihren Alltag mit Schizophrenie und Depressionen zu bewältigen.
Nun sass diese junge Frau mit besonderen Bedürfnissen alleine einem ihr intellektuell überlegenen Staatsanwalt gegenüber. In einer aussergewöhnlichen Stresssituation. Hat der Ermittlungsleiter dies bei der Befragung ausreichend berücksichtigt?
Besonders betroffen: Frauen mit Behinderung
Um dies zu beurteilen, hat CORRECTIV.Schweiz das damalige Vernehmungsprotokoll sowie Danah Ayobs Schilderungen der renommierten Aussagepsychologin Susanna Niehaus vorgelegt. Niehaus erstellt selber Glaubhaftigkeitsgutachten im Auftrag von Gerichten – unter anderem in Vergewaltigungsfällen. Zudem lehrt sie an der Hochschule Luzern und hat dort die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung als Opfer sexueller Gewalt im Strafrechtssystem erforscht.
Viele Fragen des Staatsanwalts seien kompromittierend, wertend und vorwurfsvoll gewesen, sagt Susanna Niehaus. Damit habe er Danah Ayob unter starken Rechtfertigungsdruck gesetzt: „Das hat in einer Einvernahme nichts zu suchen. Gerade bei Sexualstrafsachen geht es darum, der Person Sicherheit zu bieten, sodass sie bestmögliche Aussagebedingungen hat.“
Folgende Frage, die der Staatsanwalt Ayob stellte, sei beispielsweise ein klarer Vorwurf: „Ist es möglich, dass Sie die Anzeige platziert haben, weil Sie Ihren Freund betrogen hatten?“ Niehaus sagt: „Natürlich muss man dieses Motiv prüfen, allerdings mit offenen Fragen. Etwa: Hat Ihr Freund davon erfahren? Wie hat er reagiert?“ Betroffene, so Niehaus, müssten frei vom Erlebten berichten können.
Kommunikation ist die grösste Hürde
Susanna Niehaus betont, dass sich Misstrauen, Druck und dadurch ausgelöster Stress bei Betroffenen von sexueller Gewalt stark auf die Aussagequalität auswirken. Einerseits verschlechtert Stress das Erinnerungsvermögen, es folgen mehr Lücken und Fehler. Andererseits bekommen Betroffene das Gefühl, selbst schuld zu sein. Dadurch geraten sie unter Rechtfertigungsdruck: „Statt wahrheitsgemäss zu berichten, versuchen sie dann, ihr Gegenüber zu überzeugen. Das kann zu pointierten Angaben oder Schwarz-Weiss-Schilderungen führen.“
Bei Menschen mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung müsse Stress und Druck besonders sorgfältig vermieden werden: Da sie leicht irritierbar sind und weniger Möglichkeiten haben, Belastungssituationen zu bewältigen, haben negative Befragungsumstände auf sie eine viel stärkere Wirkung. Im Falle von Danah Ayob sei man definitiv nicht ausreichend bemüht gewesen, unnötigen Stress zu vermeiden, so Niehaus. Im Gegenteil: „Die Art und Weise, wie dieser Staatsanwalt hier kommuniziert hat, ist völlig unangemessen. Insbesondere für eine Betroffene mit kognitiver Beeinträchtigung.“
Die Staatsanwaltschaft Zürich möchte sich nicht zum Fall von Danah Ayob äussern. Ein Mediensprecher betont, es habe sich seit ihrer Befragung viel verändert, was die Sensibilität für Opfer von Sexual- oder Gewaltdelikten anbelangt. Seiner Meinung nach lässt sich kein Vergleich zwischen der damaligen und der heutigen Situation ziehen.
Besonders fatal: Sexualdelikte
Tatsächlich liegt die Befragung von Danah Ayob ein Jahrzehnt zurück. Doch auch heute noch bestehen Barrieren. Die grösste: Kommunikation.
Menschen mit kognitiver Behinderung brauchen deutlich mehr Zeit, um Fragen zu verstehen und zu beantworten. Oft ist ihr Wortschatz eingeschränkt, oder es fällt ihnen schwer, Erlebnisse oder Gefühle detailliert zu beschreiben.
Nur kommt es in Strafverfahren aber genau auf solche Details an. Insbesondere bei Untersuchungen von sogenannten Vier-Augen-Delikten wie sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigungen. Delikte, bei denen die Aussagen des Opfers und diejenigen des Täters sich meist diametral gegenüberstehen.
Besonders fatal: Gerade Frauen mit Behinderung sind von solchen Delikten zwei- bis dreimal häufiger betroffen als der Rest der Gesellschaft. Dies zeigt eine repräsentative Studie aus Deutschland. Forschende in der Schweiz gehen von ähnlichen Zahlen hierzulande aus. Sylvia Malewski, Geschäftsführerin der Fachstelle Liebi Plus, die Menschen mit kognitiver Behinderung zum Thema Sexualität berät, sagt: Fast jede Person, die in die Beratung kommt, berichtet von Erfahrungen mit sexueller Gewalt.
Benachteiligung im Strafverfahren möglich
Bei einer Befragung sollten Betroffene eine möglichst lückenlose Geschichte erzählen, sagt die Rechtsanwältin Carola Gruenberg, die seit Jahren Frauen mit Behinderung durch Strafverfahren begleitet. „Das heisst: Was ist wann, wie und wo passiert und wer hat das gemacht? Am besten wäre es, man sagt: Um 12:23 Uhr hat er mich zu Boden gedrückt, dann hat er meine Hände hinter dem Rücken festgehalten, dann habe ich geschrien.“ Nur sind Menschen mit kognitiver Behinderung gar nicht in der Lage, sich so zu äussern. Sie drücken sich viel einfacher aus: „Sie sagen sowas wie: Es hat mir halt wehgetan“, sagt Gruenberg.
Die Erfahrung der Anwältin: Oft sei es unmöglich, Betroffene zu ihrem Recht zu bringen. Meistens, weil deren Aussagen als nicht glaubhaft gewertet werden.
Bereits 2017 hielt die Aussagepsychologin Susanna Niehaus von der Hochschule Luzern in einem Forschungsbericht fest, dass die Verständnis- und Kommunikationsschwierigkeiten von Personen mit intellektuellen Einschränkungen in Strafverfahren berücksichtigt werden müssten. Ansonsten könnte diese Benachteiligung die Verfahrensgerechtigkeit gefährden.
Sie stellt fest, dass das dafür notwendige Wissen in der Schweiz weder in der juristischen noch in der polizeilichen Aus- und Weiterbildung vermittelt wird. Und das, obwohl laut Niehaus damit gerechnet werden müsse, dass etwa jede sechste Person nicht ohne Weiteres dazu in der Lage sei, nur schon die Rechtsbelehrung zu verstehen.
CORRECTIV.Schweiz hat bei den Schweizer Kantonspolizeien und Staatsanwaltschaften nachgefragt, ob diese ihre Mitarbeitenden in den letzten fünf Jahren speziell im Umgang mit Menschen mit kognitiver Behinderung geschult haben. Das Ergebnis: Sämtliche Staatsanwaltschaften, die sich zurückmeldeten, verneinten dies. Und von den 24 Kantonspolizeien, die überhaupt antworteten, boten auch nur eine Handvoll entsprechende Schulungen an. Genauso stellte kaum eine Strafverfolgungsbehörde Hilfsmittel zur Kommunikation bereit, beispielsweise Piktogramme oder Informationsmaterial in Leichter Sprache.
Die allermeisten rechtfertigen dies mit dem Hinweis darauf, dass die Opferbefragung zur Grundausbildung der Staatsanwältinnen und Polizisten gehöre. Zudem könnten jederzeit Fachpersonen von der Opferhilfe hinzugezogen werden.
Fehlende Behördenunterstützung
Markus Schefer findet das unhaltbar. Der Rechtswissenschaftler von der Universität Basel ist Mitglied des UNO-Ausschusses über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Er fordert, dass die Strafprozessordnung des Bundes angepasst wird und so alle Verfahrensbeteiligten zu entsprechenden Schulungen verpflichtet werden.
Zudem fordert er, die Zeugnisfähigkeit und Glaubwürdigkeit von Menschen mit kognitiven Behinderungen zu verbessern, und zwar durch den Einsatz von Vermittlern und Vermittlerinnen. Sie sollen Betroffene durch den gesamten Prozess begleiten, ihnen beim Übersetzen helfen und gemeinsam Entscheidungen treffen. Unmöglich ist das nicht. In Grossbritannien etwa haben Menschen mit kognitiver Behinderung bereits Anspruch auf einen Vermittler. In der Schweiz fehle der politische Wille, kritisiert Schefer.
Massnahmen sind hierzulande nur vereinzelt zu finden. Im Kanton Zürich etwa hat der Regierungsrat im Dezember 2024 zusätzliche Mittel für die Opferberatungsstellen genehmigt, damit sie Opfern in Strafverfahren eine bedarfsgerechte Unterstützung bieten können.
Danah Ayob sagt, sie hätte vor zehn Jahren vor allem eine enge Begleitung gebraucht. Jemanden, der sie von Anfang bis Ende unterstützt hätte. Inzwischen arbeitet Ayob als Peer-Beraterin bei einer Beratungsstelle für Sexualität, speziell für Menschen mit kognitiver Behinderung. Immer wieder, so erzählt sie, geht sie mit Klientinnen, die Ähnliches erlebt haben wie sie, einen Kaffee trinken. Hört ihnen zu. Nimmt sie ernst. Versucht, ihnen zumindest ein bisschen die Hilfe zu bieten, die sie damals selbst nicht bekommen hat.
Hinweis: Diese Recherche erscheint in kürzerer Form auch gedruckt im Beobachter-Magazin und online auf beobachter.ch.
Text & Recherche: Janina Bauer
Redaktion: Marc Engelhardt, Lena Berger (Beobachter), Sven Broder (Beobachter)
Faktencheck: Sven Niederhäuser
Grafiken: Janina Bauer
Kommunikation: Charlotte Liedtke